Über Zeichnung und Farbe
Entweder wird eine Zeichnung frei erfunden, oder sie entsteht vor einem Gegenstand; wobei der Gegenstand immer erst in ,,Form’“ zu verwande ist. Form ist Maß und Gefäß für farbige oder plastische Werte. Form ohne Inhalt ist geistlos, Inhalt ohne Form formlos. Die Form kann vergeistigen und binden, der Inhalt zum Gehalt werden, wenn die Inspiration durch die zeichnerische Form sichtbar wird.
Die Zeichnung soll eine klare Beziehung zum Format haben; sie kann nicht einfach auf einem anderen Blatte wiederholt werden, dessen Proportionen anders sind.
Jede Zeichnung soll die Kraft einer Ausdehnung besitzen, welche die Fläche, die sie umgibt, durch lebendige Verspannung steigert. Um eine kleine Zeichnung auf eine größere Fläche zu übertragen, muß sie aufs neue erlebt, geschöpft, ja oftmals beträchtlich verändert werden. Ein kleiner Entwurf soll die Größe der Ausführung ahnen lassen; er wirkt also erst endgültig in der beabsichtigten Fassung.
Der Kontur ist die Nahtlinie, die gleichzeitig die Körper umreißt und die freien Räume ordnet. Körper und Räume müssen organisch zueinander stehen und bestimmen wechselwirkend das Ganze. Jede überflüssige Einzelheit, die dem Ganzen nicht zugute kommt, ist durch sich selbst schädlich und beeinträchtigt die Harmonie der Zusammengehörigkeit (individuelle Überbetonung der Gesichter in Gruppendarstellungen).
Die Linie ist das wesentlichste Element der Zeichnung. Mit ihr bestimme ich Raum und Körper, durch sie begegnet sich Begrenztes und Grenzenloses im Raum. Ton und Modulation gehören nicht eigentlich
zur Zeichnung. Sie sind Elemente des Malerischen. Zeichnen ist die Technik der Inspiration. Der gezeichnete Gegenstand braucht nicht unbedingt „richtig“ zu sein. Die Zeichnung kann in sich selbst künstlerischer Ausdruck sein, oder sie soll inspirieren zum Bildhaften; sie kann farbig, plastisch und tektonisch wirken.
So wie die Zeichnung auf keinerlei wissenschaftlicher Theorie beruht, so begründet sich die Wahl der Farben nur auf Beobachtung und Empfindung. Farbenlehre sollte nie theoretisch, sondern stets übungsmäßig getrieben werden. Nicht der Farb-Ton ist für die Komposition entscheidend, sondern die Farb-Form. Es gibt eine notwendige Proportion der Farbtöne, die den Maler veranlassen kann, den „normalen“ Gegenstand im Bild zu verändern.
Bei Übungen ist die Abstraktion nicht als Ziel, sondern als Basis zu betrachten. Mit der Farbe muß auch die Form in Erscheinung treten. Die Grundfarben können ein bestimmtes Verhältnis zu den Grundformen einnehmen. Die Variationen dieser Formen korrespondieren dann folgerichtig mit den Mischfarben und den sich aus ihnen ergebenden Terzen. Schwarz und Weiß, einfache und doppelte Komplementärklänge geben der Fläche malerische Struktur und Spannung.
Man setze die Farbe ohne Voreingenommenheit; die ausdrucksvolle Seite der Farbe steigert sich während der Arbeit. Beim Malen übernimmt oft eine Farbe die Führung, sie drängt sich instinktiv auf. Der führenden Farbe zuliebe werden bei fortschreitendem Malprozeß alle anderen Mischungen angeglichen oder verwandelt.
Farbe und Zeichnung wird erst dann zum künstlerischen Erlebnis, wenn die Grundelemente so gewählt sind, daß sie zu wirkungsvoller Einheit zusammenwachsen.
– Kurt Sohns, Ausstellungskatalog für „Kurt Sohns: 50 Jahre Malerei“, 1982